Nadia Veronese/ Kuratorin und Direktorin des Kunstvereins St.Gallen

In blauschwarzes Licht getaucht, spielt sich eine Szenerie einer Strassenschlacht ab: Einem Lichtblitzgewitter gleich speit ein Wasserwerfer in unregelmässigen Stössen Wasserstrahlen gegen junge Menschen, die auf der Strasse sitzend demonstrieren. Die Sitzblockade wird mit Gewalt aufgelöst. Die Körper winden sich vergebens gegen den hohen Wasserdruck und werden brutal von der Strasse gespült. Die Videoarbeit Wasserfront, eine Dreikanal-Installation, die für die Ausstellung im Kunstmuseum St.Gallen adaptiert und auf fünf Kanäle geschnitten ist, ist eine eindrückliche Videofilmcollage von Alexandra Maurer. Auf drei nebeneinander gesetzten Videoprojektionen jagt eine Sequenz die andere. Die Eröffnungsszene startet inmitten des Geschehens, um alsbald von der zweiten und dritten Szene von links nach rechts erweitert und fortgesetzt zu werden. Es folgt ein stroboskopartiger Niederschlag von Found footage, vorgefundenem Filmmaterial, und Peinture animée, animierter Malerei, wie sie Maurer für ihre bildnerischen Ausformulierungen geschaffen hat.

Die Videoarbeit Wasserfrontbasiert auf Amateurfilmaufnahmen von Demonstrationen und auf der choreographierten Performance mit den drei professionellen Tanzschaffenden Kylie Walters, Anne Delahaye und Mike Winter, die zusammen mit der Künstlerin erarbeitet wurde. Öffentliche Bilder, private Aufzeichnungen und Einstellungen aus Actionfilmen alternieren mit Standbildern gemalter Körper in exzessiver Tanzbewegung. Das Interesse der Künstlerin betrifft den Körper in all seinen Facetten. In der dreiteiligen Videoinstallation demonstriert sie eindringlich Momente aus gefilmtem Archivmaterial und gemalter Körperdynamik vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Brisanz.
Die Machtdemonstration des mit Schlagstock, Helm und Schutzschild ausgerüsteten Polizeiapparates erhält in den aneinandergereihten Videostills eindringliche Präsenz. Die Gesten sind durch die Verlangsamung reduziert und prägnant. Die von Alexandra Maurer zusammengetragenen Amateurfilme, die mit teils wackliger Hand- oder mit
minderer Handykamera gefilmt und auf öffentlichen Internetplattformen
publiziert wurden, sind extrem verlangsamt oder in einzelne Videostills
aufgesplittet, um anschliessend wieder in ausgeklügelter Montage
zusammengesetzt zu werden. Wie in der Eisensteinschen Montageform setzt
die Künstlerin auf visuelle Kollision und nicht auf absolute
Erzähleinheit. Die aus diversen Quellen stammenden Nachtaufnahmen von
Strassenschlachten werden mit abfotografierten Standbildern von Peinture
animée gespickt. In Acrylmalerei von kontrastreicher Farbgebung und
eingefangen in drastischen und wirkungsvollen Einstellungen vom Medium
shot bis zum extremen Close up, blitzen Ausschnitte schock- und
staccatoartig auf. Bildausschnitte fügen sich wie Bausteine aneinander
und nebeneinander, teils synchron, teils zeitversetzt. In der
Installation bleiben die einzelnen Projektionen voneinander getrennt und
verlaufen weder in einer linearen Abfolge noch in einem regelmässigen
Rhythmus.

Die choreographierte und mit drei Filmkameras aus verschiedenen
Blickwinkeln eingefangene Tanzperformance liefert die Auswahl der
Standbilder. Diese werden isoliert und an die Atelierwand projiziert.
Die in gestischem Pinselstrich festgehaltenen Fragmente des Körpers in
Bewegung malt Maurer in raschen Pinselzügen mit verdünnter, wässriger
Acrylfarbe auf ein weisses Papier. Das Fliessen der Farbe erzeugt in der
digitalen Trickmontage den ungestümen und ungebändigten Körpereinsatz
der Tanzenden. Das erneute Projizieren der gefilmten Szenen als
eingefrorene Performancestills auf die nun gemalte Tanzbewegung
überführt die Malerei in die perspektivische Tiefe. Diese Kombination
von Malerei und Videostill fotografiert die Künstlerin in einem letzten
Schritt vor der Bildmontage. Im Hintergrund gibt sich die gefilmte
Kulisse kaum merklich zu erkennen, im Vordergrund inszeniert sich das
gemalte Geschehen in opulenter Farbigkeit im filmischen Raum. In satten
roten, orangen, gelben und blauen Farbtönen winden sich die Körper der
Tänzerinnen und des Tänzers gegen unsichtbare Widerstände, straucheln zu
Boden, das Gleichgewicht verlierend, halten die Arme und Hände schützend
vor das Gesicht, gleiten im Sog der Gravitations- und Fliehkraft aus dem
begrenzten Bildfeld. Das choreographische Verfahren folgt dem Verdrehen,
Verschmelzen und Verwandeln des einzelnen Körpers in multiple und
hybride Körper. Fragmente inszenierter Theatralik überlagern sich mit
Ausschnitten realer Tumulte und katapultieren das Publikum im
Ausstellungsraum in politische Geschehnisse.
Nach der frenetischen, gewaltvollen Auseinandersetzung auf den Strassen,
formal die typische MTV-Ästhetik der frühen Musikvideos imitierend,
kehrt abrupt Ruhe ein. Der rasante Videoschnitt ist gebremst, die
Abfolge der projizierten Bilder verlangsamt, die Zeit in den
Videoaufnahmen gedehnt. Letzte Funken sprühen in die dunkle Nacht
hinaus. Doch ist die Ruhe trügerisch.

Eine zweite Doppelprojektion zeigt zwei parallele Aufnahmen im Loop, die
Alexandra Maurer während ihres Atelierstipendiums in Rom realisiert hat.
Taumelnd schwenkt die subjektive Kamera durch einen Tunnel. Den
Blickwinkel des Protagonisten imitierend, scheint der Betrachter mit
gesenktem Haupt und dröhnendem Kopf nach den heftig durchlebten
Ausschreitungen sich vorwärts zu bewegen. Links die Tunnelwand, rechts
die Absperrung gegen die Strasse hin, verläuft der Gang, gespiegelt auf
der zweiten Videospur, wankend und trunken der Helligkeit entgegen. Am
Ende des Tunnels kündigt sich der Tagesanbruch an.
Die impulsive Tonspur, in der Zusammenarbeit mit dem Komponisten Daniel
Zea entwickelt, unterstreicht die Dramatik der Bildspur und intensiviert
die durch die wuchtigen Ereignisse evozierten Emotionen. In der
spannungsgeladenen räumlichen Situation der Video- und Soundinstallation
wird die visuelle und auditive Wahrnehmung des Betrachters
gleichermassen aktiviert. Aus drei Stereo-Lautsprecherboxen verfolgt der
Ton die rasante Handlung bis zu deren Abklingen. Die Geräuschkulisse der
Originalaufnahmen überlagert sich mit der komponierten Tonfolge zur
klanglich verfremdeten Bricolage.

Gegenbewegung

Die Entstehung der modernen Gesellschaft ist das Ergebnis sozialer
Bewegungen. Freiheit, Demokratie und Autonomie des Individuums sind noch
keine Selbstverständlichkeit. Angesichts des Protestes der « Grünen
Bewegung » im Iran im Juni 2009, als heftige Volkskundgebungen um das
offizielle Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in eine blutige
Machtdemonstration des Mullah-Regimes ausarten und der gewaltsame Tod
der iranischen Studentin « Neda » diese zur Ikone des Widerstands in der
islamischen Republik werden lässt, erregen ins Netz gestellte
Filmaufnahmen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. In der Folge
beginnt Alexandra Maurers Beschäftigung mit dem Ausdruck des politischen
Aktivismus im öffentlichen und virtuellen Raum. Im Medienzeitalter ist
das Internet Instrument für den Cyber-Widerstand politisch engagierter
Protagonisten.

Die performative Natur solcher sozialer Bewegungen hat Alexandra Maurer zu Wasserfrontinspiriert. Das Individuum als Akteur stellt die Hauptrolle in ihrer Video- und Malereikomposition dar. Die körperliche Provokation in der politischen Manifestation gleicht einem Happening im öffentlichen Raum. Die Künstlerin übersetzt die Performance der Akteure mit inszenierten Körpern in ein exaltiertes zeitgenössisches Tanzspektakel. Sie bedient sich des Körpers als dramaturgischer Geste und flüchtiger Passage von symbolischen Zeichen. Als Sampling finden sich in ihrer Videoprojektion politische und theatralische Handlungen in neuem Kontext wieder. Alexandra Maurers inszenatorisch brillant gesetzte Bewegungsbilder bestechen durch ihre Vehemenz in der Demonstration des individuellen und sozialen Körpers.

Die Künstlerin verweist im Gespräch mit der Autorin auf die Bedeutung von „Neda“ als Symbol für den Protest, das in den Medien transportiert wird und erweist der verstorbenen Studentin mit der Videoarbeit Wasserfronteine Hommage.
Foellmer, Susanne. Am Rand der Körper: Inventuren des Unabgeschlossenen
im zeitgenössischen Tanz. transcript Verlag, Bielefeld 2009, S. 22.