Konrad Bitterli- Direktor und Kurator Kunstmuseum Winterthur

Sie wirken auf den ersten Blick farbig, fröhlich, bunt und wild-bewegt und nennen sich la chute, muro, escape oder jump. Als „peinture animée“ bezeichnet die Künstlerin Alexandra Maurer diese zwischen 2004 und 2007 entstandenen, meist kurzen expressiven Videosequenzen – und in der Tat handelt es sich, obwohl im Medium „Video“ präsentiert, nicht um rein filmische Arbeiten, sondern um eine Art Verschmelzung bzw. Überblendung unterschiedlichster künstlerischer Techniken, vom Video über die Malerei bis zur computergestützten Animation, die schliesslich als klare räumliche Setzungen auf Monitoren oder als Projektionen installiert werden. Kurz: Alexandra Maurers Schaffen bewegt sich buchstäblich zwischen den Medien. Die Auflösung traditioneller Gattungsgrenzen wurde bereits verschiedentlich angeführt und ist im Grunde ein derart weit verbreitetes Phänomen zeitgenössischer Kunst, dass es keiner speziellen Erläuterung bedürfte, würden sich hier nicht inhaltliche Anliegen und ihre präzise formale Umsetzung in sinnstiftender Weise miteinander verbinden. Und so sei an dieser Stelle nochmals zurückgekehrt zum Anfang jeder Kunstbetrachtung, zu einem ersten (möglichst unverstellten) Blick auf das Werk, auf diese (vordergründig) so farbigen, fröhlichen, bunten und bewegten Bilder.

Erotik der Bildzeichen

Ein (fast) leerer Innenhof, zur Bühne umgestaltet, darin stehen einzelne Verstärkerboxen spärlich beleuchtet im Raum, im Hintergrund ist ein Keyboarder mehr zu erahnen, als wirklich zu erkennen: In dieser Szenerie geht eine blonde Frau in leuchtend rotem Kleid zu Boden, rollt nach vorne, wendet ihr Gesicht kurz zur Kamera, steht auf und weicht in die Tiefe des Raumes zurück, um dort – fallend – erneut zu Boden zu gehen und sich nochmals auf der Bühne hin und her zu wälzen. Nach knapp einer Minute beginnt die Sequenz im Staccato von wenigen gefilmten und zahlreichen gemalten Bildern wieder von vorne… Wie la chute zeichnen sich auch andere Arbeiten der Künstlerin durch eine vergleichbare, präzise choreographierte Verdichtung der kurzen Handlungssequenzen aus, deren wiederkehrender Rhythmus durch die Animation von Videobildern, übermalten Videostills und gestischen Malereien (Acryl auf Papier) vorgegeben wird. Mehr noch als die künstlerische Umsetzung der sechzig gefilmten bzw. gemalten und übermalten Bilder fällt jedoch ein Moment auf, das bisher von der Kritik weitgehend übersehen, vielleicht gar verdrängt worden ist: die schlicht betörende Sinnlichkeit von Alexandra Maurers Bildern. Evident werden sinnliche Momente nicht nur in der expressiv-fliessenden Faktur der auf Papier ausgeführten Acrylmalerei, mehr noch verleihen zahlreiche andere Signale ihren Werken eine entschieden erotische Ausstrahlung. So sind durchaus junge Darstellerinnen und Darsteller zu sehen, deren körperbewusste Physis immer spürbar bleibt und in den fast archaisch erscheinenden, choreographierten Bewegungen sich ins Laszive steigert, wie überhaupt dem Tänzerischen, dessen geballter Kraft und der sich entladenden Energie, kulturgeschichtlich stets etwas grundlegend Erotisches inhärent war. Diese sinnliche Körperlichkeit wird in der Malerei durch die Leuchtkraft der Kleidung mit starken Farbakzenten noch gesteigert, genauso wie die Videokamera hemmungslos heranzoomt und die Akteure beinahe physisch abzutasten scheint, wobei der Blick auch für Momente aufreizend auf intime Körperstellen freigegeben wird. Kamera wie Malerei spielen in Alexandra Maurers kurzen „peintures animées“ mit den endlosen Verführungen erotischer Signale gleichsam ein permanentes künstlerisches Striptease, ohne dass je Hüllen fallen bzw. die verlockenden Bildsequenzen sich in einer Katharsis klassischer Narration erfüllen würden.

In Raum und Zeit

Neben (beinahe) leeren Bühnen wie in la chute oder in einem Part der Zweikanal-Videoarbeit escape bilden enge Mauernischen – oder handelt es sich um eine Badewanne? -, ein lang gezogener Korridor (muro) oder ein Trampolin in einem Lunapark, von einer Zirkusplache überdeckt (jump), Ort und Rahmen der kurzen Aktionen. Es sind anonyme und zugleich vertraute Orte, die aufgrund fehlender szenischer Details ebensowenig dazu beitragen, die kurzen Aktionen zu verorten und zu einer Geschichte zu ergänzen. Gemeinsam ist Alexandra Maurers Arbeiten die alleinige Konzentration auf die physische Bewegung. Am deutlichsten wird das in muro, wo eine junge Frau bzw. ein junger Mann sich gegen die sie trennende Mauer, die sich durch die verwendete Zweikanal-Technik ergibt, stemmen, sich sanft daran anlehnen, langsam abrutschen, zärtlich abrollen, heftig dagegen anrennen… Dezidierter als in anderen Arbeiten trägt hier der Ort zur atmosphärischen Verdichtung bei, wirkt der Korridor, von kaltem Licht erleuchtet, menschenleer und verwandelt sich gleichsam zum innermenschlichen Verlies, aus dem es kein Entkommen mehr zu geben scheint. Zugleich bricht sich die tänzerische Bewegung heftig an der virtuellen (Video-)Architektur, wird zum hoffnungslosen Anrennen von Mann und Frau gegen die trennende Mauer. Ein eigentümlich harter und klinischer, vom Computer aus Originalaufnahmen generierter Sound unterstützt in muro die offensichtlichen atmosphärischen Bruchstellen, an denen sich verführerische Momente zunehmend verflüchtigen.
Mehr noch als der Ort selbst und der Ambient-Sound ist es indes die formal-künstlerische Umsetzung, die eine allzu einseitig erotische Lektüre des Werkes vehement unterläuft. Die Übertragung einzelner Videostills in freie Malerei führt beinahe zwangsweise zur Auflösung der einzelnen Formen und zum Zerfliessen der Körper: Arme und Beine werden zu freien malerischen Gesten, ins Expressive gesteigert, Gesichter fratzenhaft verkürzt, während die dünnflüssig aufgetragene Farbe ausläuft und in Rinnen ihren Weg auf dem Papier sucht und darauf abtropft. Diese Farbspuren sind in der Vergangenheit oft als Blutspuren oder Tränen gelesen und damit das Werk insgesamt als heftige, ja brutale künstlerische Aussage (miss)verstanden worden. Zumindest verdeutlicht eine solche lineare Lektüre das Potential an Gewalt und Schmerz, die gleichsam eine andere Seite des Erotischen und Zärtlichen darstellen – eine Heftigkeit, die durch das aus der MTV-Ästhetik vertraute Staccato der Bilder noch erhöht wird. Nur legt hier die Computeranimation einen zweiten Rhythmus über die gefilmten bzw. gemalten Bewegungen, wobei jener deren Rhythmus aufnimmt und zugleich zerstückelt. Die tänzerischen Bewegungen, das Springen oder Federn auf einem Trampolin, wirken weniger fliessend als stockend, abrupt. Zugleich scheint das dauernde Heranzoomen auf die Protagonistinnen den hektischen Rhythmus weiter zu verdichten.
Am radikalsten aber lösen sich die Momente des zärtlichen Spiels und der Erotik der Handlungsanlage im Dauerloop der Kurzsequenzen auf – und damit im Grunde im Prozess zeitlicher Wahrnehmung.1) Mögen ein, zwei Durchgänge die Sinne noch sanft schmeicheln, so führt die permanente Wiederholung der immer gleichen, in kurzer Folge wiederkehrenden Bildsequenzen zum Eindruck von etwas Zwanghaftem, ja Ausweglosem und Unentrinnbarem, das zugleich gefangennimmt und abstösst. Die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer scheinen wie in muro oder escape nicht nur in den Räumen, sondern – mehr noch – in den filmischen Wiederholungen gefangen. Das Fallen wird zum Dauerzustand, das Abrollen an der Wand zur manischen Handlung, das fröhliche Springen zur unendlichen Haltlosigkeit. Die technische Möglichkeit des Loopens erscheint daher in Alexandra Maurers Werk nicht einfach nur in den institutionellen Präsentationsbedingungen begründet, als simple Wiederholungen ohne verzögernde Pause, sie generiert vielmehr im Grunde Sinn und ermöglicht eine alternative Lektüre, indem sie die auf den ersten Blick so sinnliche Atmosphäre radikal bricht und die erotische Kraft der Bilder in ihr Gegenteil kehrt, in verstörende Bilder von erschreckendem Gewaltpotential. Kurz: Die Künstlerin scheint ihre betörenden Bilder gleich selbst in Gewahrsam zu nehmen – zu dekonstruieren – und die visuellen Verführungen im Dauerloop permanent zu hintertreiben.

Zwischen Waffe und lustvollem Spiel

Seit den Anfängen der Videokunst wurde die weibliche Erotik von zahlreichen Künstlerinnen buchstäblich als „Waffe“ eingesetzt, um den seit Jahrhunderten vorgeprägten Männerphantasien in der Kunst radikal andere Bilder entgegenzusetzen. Vorab im Umgang mit der eigenen Körperlichkeit schienen sich feministische Positionen zu entzünden. Auf die Pioniergeneration einer Valie Export (*1940) oder Friederike Pezold (*1945) folgten Ende der 1980er Jahre jüngere Künstlerinnen, die wie Pipilotti Rist (*1962), auf den Befreiungen und Errungenschaften feministischer Kunst aufbauend, die Lust am Frau-Sein wieder entdeckten und die eigene Körperlichkeit als sinnliches Erlebnis feierten. Entscheidend für diesen Schritt in eine visuelle Opulenz war nicht zuletzt die leichte Verfügbarkeit farbiger Filmmaterialien und digitaler Schnitttechniken, die es ermöglichten, Videobilder von geradezu malerischer Sinnlichkeit zu generieren. Alexandra Maurer nun vertritt eine dritte Künstlerinnengeneration, die für ein starkes und zugleich verletzliches Frauenbild steht und dabei hemmungslos auf das gesamte Spektrum formaler wie inhaltlicher Lösungen ihrer künstlerischen Vorgängerinnen zurückgreifen kann. Farbig, fröhlich, bunt und wild-bewegt: Mit ihren künstlerischen „Schwestern“2) teilt sie die Lust am Spiel mit den sinnlichen Verführungen von Körperlichkeit und Erotik, weiss diese jedoch mit präzisen formalen Eingriffen zu übersetzen in verstörende Bildsequenzen, die, ohne je zur Anekdote zu erstarren, vom existentiellen Gefangen-Sein berichten – und von der „condition humaine“.

Konrad Bitterli

Fussnoten:

1) Ein Spezialfall bildet in der Werkfolge muro, wo die Bildsequenzen vom Computer per Zufallsgenerator laufend neu zusammengestellt werden. Aufgrund der reduzierten Anzahl Bilder entsteht dennoch der Eindruck eines permanenten Wiederholens.
2) Die Ausstellung Ladies Only 2008 im Kunstmuseum St.Gallen präsentierte la chute von Alexandra Maurer im Kontext von Künstlerinnen wie Valie Export, Ulrike Rosenbach, Friederike Pezold, Pipilotti Rist, Elodie Pong und Katia Bassanini und demonstrierte ganz nebenbei die herausragende Bedeutung des in den späten 1960er Jahren neuen und noch wenig vorgeprägten Mediums Video